Die gleiche Welle reiten: Inklusives Surfcamp in Portugal

von Margarethe Quaas

Ein sonniger Oktobertag in Portugal. Die weiche Luft riecht nach warmem Nadelholz, Pinienbäume wiegen sich im leichten Wind. Unten rauscht die See, entlang des Horizonts gleitet der Blick über den Strand von Viana do Castelo. Im Meer tummeln sich Menschen in Neoprenanzügen. Hier, an der rauen Nordwestküste, wagen Anfänger ihre ersten wackeligen Versuche auf einem weichen »Softboard«. Nico ist einer von ihnen: 29, stolzer Vollbart, kräftiger schwäbischer Dialekt. Ab der Brust ist er querschnittgelähmt.

Bäuchlängs liegt er auf dem Brett. Mit der Welle fährt er, bis der Strand ihn abbremst, die Arme aufs Brett gestützt. Von dort kommt er nur schwer alleine hoch, schluckt kurz Meerwasser. »Däs war richtig geil«, prustet er lachend einem Coach zu, der ihn sofort wieder hinaus aufs Meer zieht.

Das inklusive Surfcamp hat sich mit dem Surf Club de Viana einen innovativen Ort gesucht: Nach dem Konzept »Jeder kann Surfen« werden hier täglich Schulklassen unterrichtet, unabhängig von sozialen Hintergründen. Auch ökologisch ist es ein vorbildlicher Bau, mit Stromgewinnung aus Solarzellen und einer Verkleidung aus Kork. Das schlichte, moderne Gebäude steht auf Stelzen zwischen Pinienbäumen, im Einklang mit der Umgebung.

Am Abend fällt warmes Licht aus den großen Glasflächen. Stimmengemurmel im großzügigen Aufenthaltsbereich. Die Ankömmlinge tauschen sich rege aus, Satzteile fliegen durch die Luft. »Ich bin noch nie gesurft«, oder »Ich mach das jetzt zehn Jahre!« verbinden sich zu einem komplexen Bild: Hier treffen unterschiedlichste Erfahrungen und Körper aufeinander – kann das gutgehen?

Sebastian hat bereits etwas Erfahrung im Surfen mit Querschnittlähmung. Und er überzeugte seinen besten Freund aus Kindheitstagen, mit dabei zu sein. Stefan ist das erste Mal am Meer, sogar das erste Mal geflogen. »Mach’s einfach« lautete sein Motto, und daran konnte ihn auch nicht seine halbseitige Lähmung hindern. Eva hat bereits zehn Jahre Surferfahrung mit ihrer Celebralparese in den Beinen. Christina wiederum ist Anfängerin und will erste Kenntnisse ausbauen.

Was sie alle verbindet? Neugier, Spaß an der Bewegung, und Offenheit. Und die Aussicht auf das hier günstig flach ausflaufende Meer.

Am Abend vor dem ersten Wellenritt ist die Stimmung noch angespannt. Johannes Laing und Friederike Schulz sitzen bei milden Temperaturen am Strandcafé. Beide tragen das offene, in sich strahlende Lächeln erfahrener Surfer. Doch heute schwingt auch Nervosität mit. Denn endlich geht es los, ihr gemeinsames Pilotprojekt »Open Ocean«. Ein Jahr haben sie darauf hingearbeitet: »Ich hoffe, dass die Gruppe zusammen Spaß hat – im und außerhalb des Wassers«, wünscht sich Friederike bei einem Glas Rotwein. Johannes nickt: »Und dass die Leute ihre ganz persönlichen Erfolge erreichen. Und langfristigen Benefit davon haben.«

Das inklusive Surfcamp am Rande der traditi-onsreichen Hafenstadt Viana do Castelo ist eine Premiere. Und damit eine ungewisse Exkursion mit vielen Fragen: Zwei Stunden Surfen am Vormittag, Theorieunterricht am Nachmittag, dazu noch manchmal ein Ausflug am späten Nachmittag, kann das für manche zu viel werden? Und: Alles findet in der Gruppe statt. Fühlt sich jeder Teilnehmer gleich abgeholt, bei aller Verschiedenheit? Zu spät jetzt für solche Gedanken. Es ist alles organisiert: Frühstück, Mittagessen, Abendessen zwischen den offenen Glaswänden des Centers.

Ins kalte Wasser werfen

Tag Eins des Unterrichts. Die Coaches verteilen spezielle Anfänger-Bretter, »Softboards«, Neo-prenanzüge und blaue Shirts zur Erkennung. Es herrscht reger Betrieb, im Center laufen den ganzen Tag die Kurse der Schulklassen.

Trotz des Durcheinanders klärt sich rasch, dass der Standort perfekt für das Pilotprojekt gewählt ist: Viele Zugänge zum Wasser und auch viele Toiletten in den Cafés ringsum sind barrierefrei. Strandrollis und ein Team von sieben Coaches in orangenen Shirts begleiten das Team zur ersten Unterrichtsstunde. Und die beginnt für alle gleich: Aufwärmen der Arme, Schultern, Nacken. Der Wurf ins kalte Wasser passiert nicht nur im übertragenen Sinn, denn ohne viele Erklärungen geht es bald in die Wellen. Das ist nur möglich, weil die Coaches gut ausgebildet sind und es eine enge Betreuung für die Surfer mit Handicap gibt.

Für Sebastian und Nico stehen jeweils zwei Coaches bereit: Einer schiebt in die Welle, der andere holt aus dem Wasser. Eva und Stefan haben jeweils einen eigenen Coach. Und die drei ohne Handicap teilen sich einen Lehrer.

Das Wasser hat kühle 18 Grad. Doch im Neoprenanzug ist die Kälte nur in der ersten Minute spürbar. Dann beginnt das Paddeln: Mit aller Kraft gegen die Wellen. Und die kommen immer und immer wieder angerollt. Dazwischen: Luft schnappen. Die Arme werden schwerer, die Luft kann am Anfang schnell ausgehen. »Das ist kein Pillepalle-Sport«, räumt Eva ein. »Grundvoraussetzung ist der Wille, es zu versuchen. Es ist anstrengend. Und du musst dranbleiben.«

Schon am ersten Tag hat Eva ihr persönliches Erfolgserlebnis. Trotz Cerebralparese: Sie steht auf den Knien, die Hände in der Luft. »Das letzte Mal war das am 8. Juni 2011«, erinnert sie sich strahlend, als sie sich aus dem nassen Neoprenanzug pellt. »Wenn ich im Wasser bin, ist die Welt in Ordnung.« Auch sie trägt die sonnige Ausstrahlung und das offene Lächeln einer langjährigen Wellenreiterin mit sich.

Nach dem Mittagessen erzählt Eva bei einem Kaffee, wie sie zum Surfen kam. Dass die Sport-lehrerin in der achten Klasse einen Surf-Ausflug organisierte, und sie Zuspruch von den Eltern und dem Surflehrer bekam. Die hatten nicht die Behinderung gesehen, sondern Eva auf dem Brett. »Hätte ich nicht diesen Wink bekommen, und hätte ich nicht meinen inneren Schweinehund überwunden, dann hätte ich mein neues Leben nicht gekriegt.«

Eva blickt zurück: »Ich hatte früher viele Ängste. Mit dem Surfen habe ich meine Grenzen überwunden.« Und ihre Flugangst. Ihre Laufbeeinträchtigung sollte ihr dabei kein Hindernis sein: »Auch wenn du denkst, es geht nicht, es geht…« Die Spastiken sind seitdem weniger häufig, und sie ist »besser beieinander«.

Bereits am dritten Tag ist klar: Jeder hat kleine oder große Erfolge auf dem Brett erlebt. Nico ist das erste Mal seit seinem Unfall vor 12 Jahren wieder im Meer. Er resümiert begeistert die letzten zwei Stunden: »Abartig. Es ging richtig heftig gut. Ich habe im Moment gar keine Schmerzen mehr.« Die lagen bei ihm in den Schultern. Denn die Körperanspannung ist für alle erst einmal ungewohnt.

Und doch weiß jeder dieses Körpergefühl zu schätzen. Was es heißt, den eigenen Körper zu kontrollieren, zu fordern, aktiv einzusetzen, um mit den spontanen Momenten auf dem Wasser umgehen zu können. Friederike meint: »Es gibt keinen anderen Sport, bei dem man so ausgelaugt und zufrieden ist.«

Zusammen bei sich

In einem Seminarraum des Surfcenters lernt die Gruppe am Nachmittag etwas über hohe Ziele und kleine Aufgaben. Steps, die realistisch und messbar sind, können anstacheln, am Ball zu bleiben um sich nicht demotivieren zu lassen. Diese Momente, in denen man sich ärgert, kennt in der Gruppe jeder für sich. Surfen ist ein Individualsport, jeder einzelne hat seine eigenen Voraussetzungen, Erwartungen, Ziele. In diesem riesigen Ozean sein, die Wellen annehmen, der Natur so nah und nah bei sich sein spült die Verschiedenheiten weg und lehrt Demut.

Das gegenseitige Anfeuern und Bejubeln von Fortschritten schweißt zusammen. Der Moment, auf der Welle spendet ein Gefühl von Freiheit. Jeder in der Gruppe kann dieses Gefühl nachvollziehen, es zaubert ein glückliches Lächeln auf die Gesichter – das zufriedene, in sich strahlende Lächeln der Surfer.

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