Wer steckt eigentlich hinter … der Studie: Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderung?

von Gabriele Wittmann

Robotik, Arbeit 4.0, Künstliche Intelligenz: Der Prozess der Digitalisierung schreitet voran. Welche digitalen Trends lassen sich aufspüren? Was bedeuten sie für Menschen mit Behinderungen? Und welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus? Fragen wie diesen gingen ab 2019 zwei Forscherinnen des Sinus-Instituts nach.

Als unabhängiges Institut für psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung erkundet das Sinus-Institut Zielgruppen und Trends. Einen Schwerpunkt bilden dabei Gruppen, die in politischen Debatten seltener vorkommen, wie bildungsbenachteiligte Jugendliche oder Menschen, die von Sozialleistungen abhängen.

Im Auftrag von Aktion Mensch befragten die Studienleiterin Dr. Silke Borgstedt und ihre Kollegin Heide Moeller-Slawinski 12 »Experten« und 43 »Betroffene« nach ihren Einstellungen und Erfahrungen.

Unter den Experten finden sich Professorinnen, Politiker und Vorstände von Interessensverbänden, die Chefin der Bundesvereinigung Lebenshilfe etwa oder der Chef der Überwachungsstelle des Bundes für Barrierefreiheit der Informationstechnik. Die interviewten Betroffenen kommen aus Städten oder Regionen in ganz Deutschland; sie weisen unterschiedliche Behinderungen auf und verfügen über unterschiedliche Einkommen

»Gute Digitalisierung ist es nur, wenn man den Prozess auch selbst noch in der Hand hat«

Frau Borgstedt, als Studienleiterin haben Sie sich gemeinsam mit ihrer Kollegin mit Fragen der Digitalisierung beschäftigt. Wie ist diese Studie entstanden?

Silke Borgstedt: Aktion Mensch hat die Studie beauftragt, um empirisch fundiert darlegen zu können, welche Trends sich längerfristig durchsetzen und was das für Menschen mit Behinderungen bedeutet.

Das Design ist ungewöhnlich: Sie haben zwei Gruppen parallel befragt. Warum?

Oft wird nur eine Gruppe gehört. Uns war es wichtig, zwei Perspektiven zu verschränken: Die »Expert*innen« aus Politik und Wissenschaft sehen andere Punkte als die Menschen mit Behinderung selbst.

Worin bestanden die größten Unterschiede?

Die Experten sahen zum Beispiel oft andere Chancen als die Betroffenen. Umgekehrt wurden von ihnen manche Risiken abgetan, die aus der Sicht der Betroffenen größer und einleuchtender erschienen.

Haben Sie ein Beispiel?

Wir hatten zum Beispiel erwartet, dass mobilitätseingeschränkte Menschen sagen: »Home Office ist super, dann muss ich mich nicht mehr an den Arbeitsort bewegen.« Dem war aber nicht immer so. Durch qualitatives Nachfragen haben wir dann verstanden, warum: Die Menschen wollen keine Alternativen zu Mobilitätsdiensten, sie wollen die Mobilität selbst. Sie wollen selbst mobil bleiben und sich selbstbestimmt in die Gesellschaft bewegen.

Sie haben im Institut verschiedene »Milieus« ausgemacht. Wie waren die in Ihrer Studie verteilt?

Oft werden Studien über die Art der Behinderung eingeteilt. Wir haben aber schnell festgestellt, dass unterschiedliche Wahrnehmungen viel eher damit zu tun haben, welchem Milieu jemand angehört. Wir haben junge, digitale und bildungsaffine Menschen gefunden, die einen ganz anderen Lifestyle pflegen als beispielsweise bürgerliche Menschen. Das haben uns die Befragten auch bestätigt und gesagt: »Man wird oft in einen Topf geworfen mit allen, die ein ähnliches körperliches Problem haben.«

Sie erforschen im Sinus-Institut auch generelle gesellschaftliche Trends. Welche waren für Ihre Studie von Bedeutung?

Als Treiber wirken gegenwärtig vor allem drei Megatrends: »Demografischer Wandel« besagt, dass der Anteil der älteren Menschen in Deutschland deutlich zunimmt. »Diversität« meint, dass unsere Gesellschaft zunehmend aus unterschiedlichen Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Präferenzen bestehen wird. Wichtig ist schließlich auch noch »zunehmende Individualisierung«.

Gilt das auch für die Zeit nach der Pandemie, wenn möglicherweise wirtschaftlich schwierige Zeiten anbrechen?

Megatrends halten mindestens zehn Jahre lang an. Diversität ist so ein Megatrend, der weiter bestehen bleiben und die Gesellschaft voranbringen wird. Wir haben im Nachgang 2020 auch noch einmal überprüft: Was verändert sich möglicherweise durch die Corona-Pandemie?

Und was haben Sie herausgefunden?

Die Pandemie ist ein genereller Treiber. Home Office wird nun normaler für uns alle. Teilhabe und »Konnektivität«, also das Verbunden-Sein untereinander durch Soziale Medien, gewinnen noch mehr an Bedeutung. Aber auf der Seite der Risiken kommt jetzt ein größerer wirtschaftlicher Druck dazu. Die Technik ist verfügbar. Die Frage wird aber sein: Wird sie auch bereitgestellt?

Und wird sie auch bezahlt …

Genau. Es ist ja nicht nur teuer, Automation aufzusetzen. Dazu kommt das permanente Aktualisieren und Warten der digitalen Hilfen und Geräte. Und wenn Unternehmen unter Druck stehen und sparen müssen, könnte es sein, dass ein Arbeitgeber sagt: Besondere Ausstattungen wie ein Screenreader für Menschen mit Behinderung sind teuer, und das kann ich mir nicht leisten.

Wie standen die Interviewten denn generell zum Thema digitale Veränderung am Arbeitsplatz?

Interessant war beispielsweise, dass die Experten davon geschwärmt haben, dass es ganz neue Arbeitsplätze geben könnte. Aber die Betroffenen selbst äußerten große Ängste. Und zwar aufgrund der Überlegung: Wenn sich alles immer schneller verändert, dann kann ich zwar noch mehr lernen und grundsätzlich teilhaben, aber wie lange kann ich da noch mithalten? Und wird die Konkurrenz nicht größer? »Kosten« und »Beschleunigung« der Innovation waren negative Aspekte, die zutage getreten sind.

Sie kommen in der Studie zu dem Schluss, dass das Thema Ausbildung wichtig wird. Warum?

Es wurde oft gesagt: Ein wesentliches Hemmnis für das Nutzen digitaler Vorteile sind fehlende digitale Kompetenzen. Das ist bei den Betroffenen selbst so, aber auch bei denen, die vermitteln. Es braucht gezielte Schulungen, auch für das Personal im Pflege- und Assistenzbereich.

Worauf wäre hier zu achten?

Es braucht vor allen Dingen mehr Ausbildung. Bei den Ausbildungsgängen zur Pflege müssen beispielsweise Themen wie »Digitale Vermittlung«, »Assistenztechnologien«, »Digitales Controlling« berücksichtigt werden. Im Moment ist es doch meistens so: Viele Menschen phantasieren über Künstliche Intelligenz, und jedem fällt ein tolles Beispiel ein, was eine bestimmte App so alles kann. Wir leben zwar längst im digitalen Zeitalter, aber die Realität sieht anders aus. Die meisten Webseiten sind heutzutage noch nicht einmal barrierefrei. Man sollte also überhaupt erstmal das umsetzen, was heute schon machbar wäre.

Was haben Sie herausgefunden zum Thema Barrierefreiheit?

Es gab seitens der Betroffenen häufig den Wunsch, besser darüber aufgeklärt zu werden, welche Art von Barrierefreiheit es überhaupt gibt. Und wie man sie finanzieren kann. Dafür wird eine Plattform oder Stelle gewünscht, die Informationen vermittelt.

Ein Trend, den sie aufgreifen, lautet: Das Internet gibt es nicht mehr …

Wir nehmen es zumindest immer weniger wahr. Denn wir müssen nicht mehr ins Internet  »gehen«, sondern sind immer schon mittendrin. Das schürt bei manchen die Hoffnung, dass ich mich nicht mehr einloggen muss, sondern mich bereits in einer eingeloggten Umgebung befinde und diese Hürden gar nicht mehr habe.

Und was ist das Risiko?

Das Risiko liegt darin, dass man komplexe  Systeme nicht mehr durchschaut. Man macht sich abhängig von einer digitalen Infrastruktur und ist bald darauf angewiesen. »Gute« Digitalisierung ist es nur, wenn man den Prozess auch selbst noch in der Hand hat.

Was uns zurückführt zum Thema Ausbildung.

Genau. Wir haben während der Pandemie jetzt erlebt, dass wir uns zu Online-Konferenzen einen niedrigschwelligen und zunächst kostenlosen Zugang geholt haben. Aber welche Risiken man sich damit ins Haus holt, das wird nicht mit bedacht. Unsere interviewten Experten frag[1]ten sich: Wie wähle ich als Mensch mit Behinderung einen Dienst aus, bei dem meine Daten sicher sind, keine teuren Gebühren anfallen, und den es nicht plötzlich eines Tages nicht mehr gibt? Auch Experten aus den Stadtverwaltungen fragen sich inzwischen: Wie soll eine Smart City aussehen? Manche geben zu: »Da fehlen uns teilweise selbst noch die Kompetenzen.« Es braucht also mehr Bildung und Ausbildung für alle.

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