Wir müssen wieder lauter werden: Eine Richterin kämpft für belastbare Gesetze

von Gabriele Wittmann

Nancy Poser arbeitet als Betreuungsrichterin am Amtsgericht Trier. Seit langem engagiert sich die Juristin auch ehrenamtlich. Sie war zwei Jahre lang Behindertenbeauftragte der Stadt, später Vorsitzende des dortigen Behindertenbeirats. 2020 legte sie mit acht weiteren Klägern vor dem Bundesverfassungsgericht Beschwerde gegen die Triage ein. Noch warten alle auf die Entscheidung. Wir fragten sie: Wogegen wehren Sie sich gemeinsam?

Nancy Poser: Die Beschwerde an sich ist nicht ein »gegen«, sondern ein »für«: Wir streiten für ein Tätigwerden des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber schützt in der Triage Menschen mit Behinderungen nicht vor einer Diskriminierung durch die Leitlinien. Und es gibt für Covid 19 bislang nur ärztliche Leitlinien, keine Gesetze.

Was fordern Sie konkret?

Der Gesetzgeber muss uns davor schützen, dass Dritte uns diskriminieren. Er muss unser Recht auf Leben und Gleichbehandlung schützen und ein Gesetz aufstellen, das diesen Fall der Triage regelt und allen Menschen dieselbe Chance gibt. Dieses Gesetz wäre dann auch im Verfassungsrecht nachklagbar, was jetzt nicht möglich ist.

Bringen Sie selbst einen Gesetzesvorschlag?

Das sehen wir noch nicht als unsere Aufgabe.

Warum nicht?

Weil der Gesetzgeber gar nicht bereit ist, darüber zu sprechen.

Vielleicht bräuchte die Politik einen Anstoß?

Darüber müsste erstmal der Bundestag diskutieren. Da geht es um elementare Fragen wie: Welche Grundwerte haben wir? Welche Entscheidung wäre eine, die allen Menschen ihre Würde lässt? Solche Fragen gehören in eine gesamtgesellschaftliche Diskussion.

Jens Spahn hat diese Forderung abgelehnt. Haben Sie Verständnis dafür, dass eine deutsche Regierung angesichts der Euthanasie-Verbrechen des NS-Staates nie wieder vorschreiben will, wer leben darf und wer nicht?

Genau das ist ja das Problem. Genau aufgrund dieser Geschichte müsste die Regierung uns schützen. Genau deshalb dürfen wir Leben nicht abwägen. Es kann doch nicht sein, dass der Ethikrat sagt: Der Gesetzgeber soll kein Gesetz machen – dann sollen es doch die Mediziner machen! Das ist ein Abschieben der Verantwortung, die der Gesetzgeber übernehmen müsste.

Sie haben nicht nur dieses Projekt angeschoben, Sie sind als Juristin auf vielen Gebieten ehrenamtlich aktiv. Seit 2010 sind Sie auch Mitglied im Forum behinderter Juristinnen und Juristen. Warum sind Sie damals beigetreten?

Ich habe meinen Gehaltszettel gesehen und festgestellt, dass ich den größten Teil meines Gehalts abgeben muss, um weiterhin Assistenz zu bekommen. Das fühlte sich nicht richtig an, weil ich ja keine Vorteile erhalte, sondern nur einen Nachteil ausgeglichen bekomme. Ich habe gedacht: Das muss doch auch anderen Leuten so gehen? Ich habe Juristen gegoogelt, die sich damit beschäftigen, und das Forum gefunden.

Wann war das?

Das war 2010, genau zu dem Zeitpunkt, als das Forum dieses »Abgeschoben-Sein auf Sozialhilfe« angehen und ein neues Teilhaberecht schaffen wollte. Die UN-Behindertenrechtskonvention war gerade in Kraft getreten und das Forum machte sich Gedanken darüber, wie es in deutsches Recht eingegliedert werden könnte.

War das Forum erfolgreich damit?

Nicht so ganz. Wir waren lange mit dem Teilhabegesetz beschäftigt, das 2016 verabschiedet wurde. Es ist uns gelungen, darin den Grundgedanken umzusetzen und das Sozialhilferecht aus dem Sozialgesetzbuch SGB XII ins SBG IX zu holen.

Warum war das wichtig?

Weil es einen Paradigmenwechsel widerspiegelt: Weg von der Fürsorge zur Teilhabe. Wir sind nicht mehr Empfänger. Sondern wir erhalten Nachteilsausgleiche für ein gleichberechtigtes Leben. Das ist ein ganz anderer Gedanke. Aber natürlich bleiben einige Rahmenbedingungen, beispielsweise, dass ich nur ein beschränktes Vermögen haben darf und einen Eigenanteil zahlen muss …

Immerhin wurde das erlaubte Vermögen inzwischen beträchtlich erhöht …

Ja, der Vermögensbeitrag ist gestiegen von 2600 auf 50 000 Euro.

Und Partner müssen auch nicht mehr zahlen.

Das war ein weiterer Erfolg: die Aufhebung des »Heiratsverbotes«, wie wir das scherzhaft immer genannt haben. Bis 2020 war es so, dass bei Menschen, die zusammengelebt haben, die Einkünfte und Vermögen des Partners vollständig zur Finanzierung des Nachteilsausgleichs herangezogen wurden. Das fanden wir unglaublich, weil man im Prinzip dafür bestraft wird, dass man eine Partnerin hat. Das ist nun im Teilhabegesetz gestrichen.

Was konnten Sie noch erreichen?

Im SGB IX wurde das Persönliche Budget verankert und auch die Elternassistenz. Und wir haben Stellung genommen zu möglichen Verbesserungen, die in der Folge kamen.

Was sagen Sie Leuten, die sich ehrenamtlich engagieren wollen, sich aber fragen: Schaffe ich das überhaupt?

Ich glaube, man sollte niederschwellig anfangen. Einfach mal online rumstöbern, auf Facebook Leute suchen, die ebenfalls Probleme haben, zu denen man einen Rat beitragen kann. Und über dieses »füreinander-da-Sein« kommt man dann schnell dazu, dass man sich einer Bewegung anschließen kann. Man kann sich natürlich auch überregional Aufrufe anschauen.

Braucht es mehr Engagement?

Auf jeden Fall. Die Behindertenbewegung muss wieder lauter werden. Wir sind gerade in Anhörungen zum Barrierefreiheitsgesetz, um auch private Anbieter zu Barrierefreiheit zu verpflichten. Und wir kommen nicht weiter, wenn wir darauf bauen, dass uns alles in die Hände gegeben wird. Wir bekommen das nicht geschenkt. Wir müssen es erkämpfen. Und wir müssen wieder lauter werden: mehr Leute werden. Die sich Gedanken machen. Die Ideen haben und aktiv sind.

Kommentare

Gabriele Flüchter

01. Juli 2021 um 08:56 Uhr

Guten Morgen Raul Krauthausen, besten Dank für den Hinweis, Gabriele Wittmann für das Interview mit Nina Poser. Ich überlege seit Ihrem Tweet, Herr Krauthausen, wir bräuchten Rechte und nicht Aufklärung, was damit gemeint sein könnte, und frage mich das auch beim Lesen des Interviews, denn ich sehe ein Hauptproblem eben doch in der "Aufklärung". Ich denke nicht, dass das ein Zeichen der "Deformation Professionelle" wäre, von der Theodor Adorno schrieb. Ich beschäftige mich vor allem mit der Barriere des Antisemitismus und meine, dass bis in die Regierung hinein zu schubladenhaft, zu sehr nach Gewohnheit bewertet wird, soweit es um die Analyse von Gewalttaten geht. Ich wüsste nicht, welches Gesetz dies verändern könnte, sondern denke, dass vor allem die Freiheit von Forschung- und Wissenschaft und daran anschließend die Bildungsfreiheit für die Beschäftigten gelten müsse. Gesetzlich gilt das aber alles schon, ich wüsste nicht, welches Gesetz dem Ziel im Wege stände oder welches Gesetz dafür fehlte. Es fehlt an den Mitteln, nicht generell, sondern an einer transparenten und nach dem Grundsatz der Gleichberechtigung erfolgenden Mittelverteilung. Selbst wenn kein bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert würde, würde es ja trotzdem daran fehlen. Zu viel wird an "Prominenz" festgemacht, Forscher, Wissenschaftler, vor allem aber Lehrkräfte, die aufgrund ihrer "mittleren akademischen Karriere" sowieso eher weniger attraktiv für die Außenwerbung scheinen, sind immer schlechter versorgt, dies trifft aber eben nicht alle. Diejenigen, die bereit sind, ihre Schwerpunkte so zu setzen, wie es auch die führenden Marketingagenturen tun, haben es leichter, sie werden gelobt, eher dafür, als für ihre Arbeit. Verdenken kann ich es diesen nicht einmal, denn wenn man individuell arbeitet - und Lehrkräfte, aber auch Forscher und Wissenschaftler machen das ja primär, auch dann, wenn sie sich in Teams zusammen finden - fällt derjenige/diejenige zurück, die sich nicht dem bevorzugten Ansatz der privaten Sponsoren verschreibt. So etwas gab und gibt es immer und es ist auch nicht grundsätzlich falsch, wenn aber für solche Themen wie "Aufklärung über Antisemitismus" weder der Raum, noch die Zeit, noch irgendwelche Mittel übrig bleiben, nutzt es ja gar nichts, wenn ich das schönste Gesetz hätte, um dies tun zu dürfen. Ich könnte es kaum oder nur unter größten Schwierigkeiten umsetzen. Da liegt m. E. aber das Problem. Ich erinnere gut eine Einführungsstunde für neue Studierende, es sollte zum ersten Mal auch eine kleine Kiezerkundung mit historischem Bezug geben, die Gremien winkten das durch, es konnte los gehen. Auf den Spuren kleiner Verse sollten sich die Studierenden erste Eindrücke zur Geschichte rund um den Hausvogteiplatz erlaufen, sinnlich erfahren - es war die letzte Stunde am Montag, mehr geht da auch nicht mehr. Trotzdem die Gremien es durchwinkten, niemand etwas "dagegen" hatte, war es Stress pur. Dauernd kam jemand und wies auf einen Rechtschreibfehler hin, das gehe aber nicht, das gehe gar nicht. Oder es hieß, na ja, man wäre ja nicht Geschichtsschule, ob das jetzt immer so weiter gehen solle? Es passe doch nicht zum Profil. Ob denn der mit der Adresse in der Jägerstraße, es ging um das Familienwappen der Mendelssohns, Mendelssohn oder Mendelssohn-Bartholdy gemeint wäre? Das es egal wäre, stieß auf Unverständnis. Wieso sollte es nicht egal sein? Eine Stunde, eine einzige Einführungsstunde für ein ganzes Jahr - nur Stress, da kommt aber kein Gesetz gegen an, das geht nur durch öffentliche Konfrontation, Debatte und auch offener Kritik. Es ist zu einfach, unerwünschte Geschichte zu unterdrücken, man muss nur diejenigen, die dazu präsentieren möchten, oder dazu etwas erarbeiten möchten, organisatorisch und/oder persönlich ins Abseits befördern - das bleibt in den eigenen vier Wänden, und fertig. Da liegt das Problem vor allem. Wenn mehr Pluralismus in die Nachrichten zurückkehrt, egal ob sie von Lehrern, Wissenschaftlern, Forschern, Medienanbietern wie Raul Krauthausen, dem Tagesspiegel, Deutschlandfunk etc. kommen - dann gibt es eine gute Chance, nach meiner Auffassung, den Antisemitismus, wie er sich zeigt, klein zu halten. Essentiell dafür wäre z. B. auch in der Flüchtlingsdebatte das Thema "Antisemitismus" nicht weg zu lassen,Flüchtlinge werden diskriminiert, weil sie Muslime seien, es wird nicht einmal im Einzelnen gefragt, ob die als Muslime titulierten Menschen überhaupt Muslime sind, es wird sowieso nicht viel gefragt, außer ob sie zu gebrauchen sind oder nicht. Die Seife aus Nizip schafft es auf den Ferdinandmarkt in Lichterfelde, die Kinder in den Flüchtlingslagern schaffen es nicht, zu jung, um am Bau helfen zu können, und dann ist da die zweite Frage: Welche Kinder schaffen es vor allem nicht? Die Zedern schaffen es aus allen Richtungen, die Menschen nicht - am BER ist kaum koscheres Essen zu finden, warum nicht? Der Handel handelt mit dem Antisemitismus, es muss Frieden herrschen für jeden, der mitteilen möchte, wovon und womit der Handel handelt, egal ob es um Sachen, Nachrichten oder Menschen geht.

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