Was steckt eigentlich hinter … Design für Alle?

von Margarethe Quaas

»Gutes Design schafft Möglichkeiten, schlechtes Design Beschränkungen.« Mit diesen Worten wurde 2004 die Deklaration des European Institute for Design and Disability (EIDD) in Stockholm eingeleitet. Die Erklärung spricht dem Design – allem, was von Menschen für Menschen geschaffen wird – eine unmittelbare gesellschaftliche Verantwortung zu. Das Leitbild des 1993 gegründeten EIDD: »Lebensqualität verbessern durch Design für Alle.«

Mit Blick auf die menschliche Vielfalt, soziale Inklusion und Gleichstellung fordert die Deklaration einen ganzheitlichen und innovativen Ansatz aller Planer, Arbeitgeber, Verwaltungen und führenden Politiker. Und das von Anfang an im Entwicklungsprozess. Geht es bei Barrierefreiheit um die Überwindung von Hindernissen für Menschen mit Behinderung mittels festgelegter DINNormen, ist Design für Alle auf die Inklusion aller potenziellen Nutzer ausgerichtet.

Mathias Knigge, Vorsitzender des Kompetenznetzwerks Design für Alle – Deutschland e. V. (EDAD) erklärt: »Um Veränderungen anzustoßen, liegt der Kern des ›Design für Alle‹ gerade in den Mehrwerten für verschiedenste Menschen.«

Smartphone-Display
Collage: Foto Freepik.com / rawpixel.com und Screenshot iPhone

Mit Weitsicht planen, mehr Menschen erreichen

Design für Alle schafft attraktive und komfortable Lösungen für alle Nutzer

E in kalter Wind pfeift über Gleis 14. Warten auf den ICE. Reisende mit schweren Koffern, mit Rollstuhl, ältere Mitreisende, junge Väter mit Kindern an der Hand und Mütter mit Kinderwagen. Der ICE hält. Zwei Bahn-Mitarbeiter bedienen den Hublift, um dem Passagier im Rollstuhl den Zugang zu ermöglichen. Für den Rest der Mitreisenden heißt es: Kind, Gepäck, Hilfsmittel trittsicher die steilen Stufen hochmanövrieren. Dann kann die
Zugreise endlich losgehen. Ein letzter Blick auf den Bahnsteig. Ach nein, der Hublift muss noch eingefahren werden. Naja gut, sie müssen ja auch an Bord …

Kommt Ihnen diese Situation zu Beginn einer Reise bekannt vor?

Eine andere Reise

Mit Enthusiasmus rauscht Mathias Knigge in die Vorstellung des Kompetenznetzwerks Design für Alle – Deutschland e. V. (EDAD): »Wir sehen die große Chance, von dieser Defizitorientierung wegzukommen, denn die führt nur zu Lösungen, die wiederum weitere Probleme mit sich bringen.« Knigge spielt auf das schlechte Bild an, das mit dem Hublift entsteht: »der Behinderte, der Aufwand macht und Arbeit erzeugt«.

Das Konzept »Design für Alle« setzt ganz am Anfang an. Im gesamten Entstehungsprozess eines Produkts oder einer Dienstleistung wird auf Nutzerorientierung und -einbindung geachtet. Ziel ist die Nutzbarkeit eines Produkts,einer Dienstleistung oder Infrastruktur für alle Menschen ohne individuelle Anpassung oder besondere Assistenz.

»Das, was ich als Lösung anbiete, soll für alle komfortabel sein«

Dabei behauptet Design für Alle nicht, dass es die eine Lösung für alle Menschen gibt. »Aber das, was ich als Lösung anbiete, soll für alle attraktiv, für alle komfortabel sein«, erklärt der gelernte Maschinenbauer und Produktdesigner. So auch eine barrierefreie Lösung für den Einstieg in den ICE: für zehn Prozent der Reisenden ist sie unerlässlich, für 30 bis 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent hilfreich.

Gut fürs Geschäft

Knigge sieht diesen inklusiven Gedanken wirtschaftlich: »Ich gehe zu Unternehmen und zeige ihnen, welche Vorteile sie haben – Stichwort Mehrwerte: weniger Probleme mit Kunden, größere Besucherströme, weniger Rückfragen oder juristische Auseinandersetzungen.« Knigge führt parallel das Büro grauwert in Hamburg. Darin berät er Unternehmen, gibt Workshops und leistet in Lehrveranstaltungen Aufklärungsarbeit.

»Es war wirtschaftlich interessanter«

Ein gutes Beispiel für ein Design, das für alle funktioniert: das iPhone. Die inklusiven Funktionen sind völlig unsichtbar und vielen Menschen nicht bewusst. »Das Betriebssystem des iPhones erlaubt jedem Nutzer und jeder Nutzerin, das Interface für sich komfortabel und barrierefrei einzustellen. Blinde können sich alles vorlesen lassen und die Bedienung kann über Spracheingabe oder Gesten erfolgen«, schwärmt der Fachkundige und erklärt weiter: »Ein Riesengewinn für Menschen mit Behinderung, wenn Webseiten und Apps auch entsprechend programmiert sind.«

Während Barrierefreiheit auf DIN-Normen Bezug nimmt, orientierte sich die Entwicklung des iPhone am Markt. »Um nicht aus den Ausschreibungen öffentlicher Stellen rauszufliegen«, so Knigge. Öffentliche Dienstleistungen unterliegen dem American Disability Act, der eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung verbietet. »Es war wirtschaftlich interessanter, Barrierefreiheit gleich mitzudenken«, erklärt Knigge nüchtern.

Jedes iPhone der Welt kann durch wenige Einstellungsänderungen für jegliche Art von Behinderung optimiert werden. »Apple hat das Thema Barrierefreiheit gestalterisch sehr positiv angefasst, sodass die Einstellungen schon im Betriebssystem eingebunden sind.« Anders als bei defizitorientierten Lösungen braucht der Nutzer kein Spezialgerät und keine Spezialsoftware, die man sich runterlädt und die am Ende schlechter gestaltet ist, weil sie nur für eine kleine Zielgruppe und nur zur Pflichterfüllung entwickelt wurde.

Salatschleuder, die mit einer Hand bedient wird

Foto: OXO

rosa-farbiges Kissen in einer Küche

Foto: Depot4Design

Hefter, der mit einem Finger bedienbar ist

Foto: Novus Dahle GmbH

Leitfaden Design für Alle

Im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie wurde 2014 ein Leitfaden für Unternehmen veröffentlicht: »Besser für die Kunden, besser fürs Geschäft: Design für Alle in der Praxis – ein Leitfaden für Unternehmen.«

Fünf Kriterien zeichnen Design für Alle aus

Gebrauchsfreundlichkeit:Produkte so gestalten, dass sie einfach nutzbar sind.
Anpassbarkeit: Produkte so gestalten, dass die Nutzer sie an ihre individuellen Bedürfnisse anpassen können.
Nutzerorientierung: Nutzer und ihre Perspektiven im Entwicklungsprozess frühzeitig berücksichtigen.
Ästhetische Qualität: Attraktive Produkte sind für alle erreichbar.
Marktorientierung: Produkte breit positionieren, um das gesamte Marktpotenzial optimal auszuschöpfen.

Dinge des Alltags

Ein Produkt ist gut gestaltetet, wenn es viele Nutzer anspricht und sich im Laufe eines Lebens veränderten Situationen anpasst. Als Best-Practice-Beispiel nennt Knigge die bodengleiche Dusche: »Sie hat einen Wellnesscharakter, wird mit Luxus und Hotel verbunden. Aber klar ist, dass Kinder gut reinkommen und ich sie mit gebrochenen Fuß oder Rollstuhl weiter gut nutzen kann.«

Vom Bad in die Küche: ein weißer Sparschäler, geradlinig geformt und beidhändig benutzbar. Das Design verrät diesen Mehrwert nicht auf den ersten Blick. Das gleiche gilt für einen flachen Stecker mit beweglichem Kopf: Mit wenig Kraftaufwand lässt sich dieser aus der Wand entfernen. Die schmale Form wirkt elegant und erlaubt, Möbel dicht vor der Steckdose zu positionieren.

An allen Beispielen wird deutlich: Sie funktionieren für viele Menschen, ohne zu stigmatisieren. Der flache Netzstecker wird nicht zum »Seniorenstecker« und die Bodendusche nicht zur Rolli-Dusche. Design für Alle inkludiert, ohne mit dem Finger darauf zu zeigen. Der Anspruch: smart und schick.

Smartphone-Display

Collage: Foto Freepik.com / rawpixel.com und Screenshot iPhone

Sparschäler

Foto: ritterwerk GmbH

Gerät in einer Steckdose

Foto: Schulte Elektrotechnik


Inklusiv planen ohne Vorschrift

Anders als Barrierefreiheit ist Design für Alle nicht gesetzlich vorgeschrieben. 2004 sprach die Europäische Kommission die Empfehlung aus, Design für Alle bei öffentlichen Ausschreibungen als Anforderung vorzusehen. Im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtete sich die Bundesregierung 2011, das Konzept des Design für Alle durch geeignete Maßnahmen umzusetzen.

Die Mitglieder von EDAD haben verstanden, worum es Design für Alle geht: »Es geht um mehr als nur Sonderlösungen und Zentimeter, es geht um Gestaltung und Zusammenhänge«, erklärt Mathias Knigge. Und macht den Unterschied deutlich: »Barrierefreiheit nach DIN ist noch nicht automatisch nutzerfreundlich und elegant.«

Eine rollstuhlgerechte Toilette nach DIN-Maßen ist nicht zwingend die passende Lösung für blinde oder sehbeeinträchtigte Menschen. Hier hilft eine kontrastreiche Gestaltung – auf allen Toiletten. Menschen mit Sehbeeinträchtigung haben dann die Auswahl. Gleichzeitig fordert Knigge eine Vermeidung von Begriffen wie Behindertentoilette: »Der Begriff kanalisiert, für wen die Toilette ist. Menschen im Rollator oder mit Kinderwagen fühlen sich nicht angesprochen. Rollstuhl-WC wäre doch völlig ausreichend «, kritisiert Knigge.

»Es hat etwas mit Haltung, mit Innovation zu tun«

Sollte Design für Alle vorgeschrieben sein? Knigge ist da skeptisch: »Es hat etwas mit Haltung, mit Innovation zu tun. Dann gibt es nicht immer eindeutige Vorgaben, sondern es müssen gute Lösungen im Geiste des Konzeptes gesucht und gefunden werden.« Deshalb sieht er in DIN-Vorschriften auch eine Berechtigung: »Es ist hilfreich, dass es konkrete Maße gibt, an die sich Planer halten können.« Gemeint ist eine Orientierung, ein Mindeststandard, um allen Menschen eine soziale Teilhabe zu ermöglichen.

Eine feste Zahl oder universelle Strategie gibt es bei Design für Alle nicht. Es ist ein Konzept, das sich dem Produkt anpasst und das mit der
Herangehensweise des »Design Thinking« eng verknüpft ist. Bisher wird Design für Alle nur punktuell unterrichtet. Eine feste Etablierung im
Lehrplan der Hochschulen steht noch aus. Soll sich der Gedanke und Nutzen von Design für Alle stärker verankern, ist Aufklärungsarbeit an Lehr- und Forschungsinstituten unumgänglich.

Bis dahin hält Knigge eifrig Workshops und Seminare ab. Diese sind für ihn Erfolgserlebnisse, weil sie regelmäßig als Augenöffner fungieren. Ein häufiger Satz, der am Ende fällt: »Ach, das ist ja gar keine spezielle Lösung für Behinderte.« Dann hat er den Teilnehmer erreicht.

Mathias Knigge,

Foto: Mathias Knigge, grauwert

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