Ich fühle, was ich sehe: Sebastian Toblers Rad trainiert gelähmte Beine

von Hilmar Schulz

Ein Fahrzeugingenieur hat das Rad neu erfunden. Genauer: Ein Dreirad mit Handkurbel. Der Clou daran: Die gelähmten Beine des Piloten werden mitbewegt. Denn das »GoTryke« ist viel mehr als ein Fahrzeug. Menschen mit Querschnitt können damit nicht nur selbstständig im Gelände unterwegs sein, sie erleben ihren ganzen Körper wieder.

Sebastian Tobler hat am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man die Gliedmaßen nicht mehr bewegen kann. Vor acht Jahren überschlug sich der Fahrzeugingenieur und Sportler mit seinem Mountain-Bike, stürzte auf den Kopf, dabei brach seine Halswirbelsäule. Mit einer inkompletten Tetraplegie verbrachte er danach ein Dreivierteljahr im Krankenhaus. Bereits früh begann er intensiv zu trainieren, in der Hoffnung, Fertigkeiten so wiedererlangen zu können. Auch zurück zu Hause übte er im Keller stundenlang an Reha-Maschinen. »Aber das war auch sehr langweilig.«

Tobler wollte unbedingt wieder hinaus in die Natur. Er probierte verschiedene Fahrgeräte aus.

Manche schienen vielversprechend, bei einem Handbike wurden sogar zusätzlich die Beine bewegt, jedoch wie auf einem normalen Fahrrad: »Diese Kombination erschien mir ganz unnatürlich.« Der Ingenieur entwickelte das Konzept weiter. Dabei kamen ihm seine Erfahrungen als Sportler und Tetraplegiker gleichermaßen zugute.

Seine Idee: Beim Gehen oder Laufen bewegt der Mensch den rechten Arm und das linke Bein gemeinsam nach vorne und umgekehrt. Dieses natürliche kreuzweise Pendeln hat Tobler auf das Fahrrad übertragen. Beim Go-Tryke treiben die Hände einen Kurbelmechanismus an, der mittels einer Kette die Arm- und Beinbewegungen koordiniert. Ein Elektromotor mit Batterie liefert nach Bedarf zusätzliche Kraft. Das Rad eignet sich nicht nur für Querschnittgelähmte, sondern auch für halbseitig Gelähmte oder Amputierte.

In einem Video seines Startups »Go By Yourself« (GBY) ist zu sehen, wie Tobler in seiner Schweizer Heimat durch hügeliges Gelände und über holprige Wanderwege saust. Es ist mehr als Fahren: »Ich sehe, wie meine Beine sich bewegen, meine Hüfte schwingt, und das fühle ich in meinem Oberkörper.« Wenn er auf seinem Go-Tryke fährt, habe er praktisch das Gefühl, wieder laufen zu können.

Dabei empfindet Tobler die Einheit seines gesamten Körpers. In der Medizin ist dieses Feedback-Phänomen lange bekannt. Unabhängig davon, ob ein Körperteil gelähmt ist oder nicht mehr existiert: Für das Gehirn bestehen diese Verknüpfungen weiterhin. Dieses Feedback an das Gehirn wird auch in der Reha oder zur Schmerztherapie eingesetzt.

Wunsch nach sozialer Verantwortung

Die Entwicklung des Go-Tryke selbst sei unter günstigen Bedingungen verlaufen, erklärt Tobler. Als er mit 43 Jahren den Unfall erlitt, hatte er lange Zeit Spezialfahrzeuge entworfen und war gut vernetzt. So konnte er Zeichnungen selbst anfertigen, ehemalige Arbeitskollegen

frästen, schweißten und montierten dann nach Feierabend. Bei der Finanzierung half das Innovationszentrum für Assistive Technologien der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. So war es nicht schwer, den Prototyp zu bauen.

Doch für sein Projekt brauchte er auch die Unterstützung von Medizinern – und hier lag das größte Hindernis: »Als Tetraplegiker gelte ich als jemand, der Hilfe benötigt, und nicht etwa selbstständig Lösungen präsentiert.« Dass er genau solche Vorschläge unterbreitete, sei bei manchen Medizinern nicht gut angekommen.

Deswegen hat es lange gedauert von der ersten Idee bis zur Ausführung. Doch Sebastian Tobler verfügt über Durchhaltevermögen und Nüchternheit. So führte ein Schritt nach dem anderen zu dem, was er heute ist. »Ich hatte früher nie das Ziel, eine eigene Firma zu gründen oder medizinische Produkte zu entwickeln.« Aber er sei schon immer auf der Suche nach einem Sinn im Leben gewesen. Den Wunsch nach sozialer Verantwortung teile er dabei mit seiner Frau. Deswegen hat das Paar zu seinen beiden eigenen Kindern ein Pflegekind und einen Adoptivsohn aufgenommen.

Ein eigenes Labor eröffnet

Ohne die Familie, vor allem seine Ehefrau, hätte er die vergangenen Jahre nicht bewältigen können. Und wie geht Tobler mit schlechten Tagen um? Er schöpfe Zuversicht aus seinem Glauben, sagt er. »Mein Tag beginnt damit, dass ich aufwache, in der Bibel lese und bete.« Aber es gebe Situationen, die kaum zu ertragen sind – Probleme mit dem Darmmanagement, Schmerzen, Weinen. Er könne seinen Körper nun einmal nicht mehr vollständig kontrollieren. Also reifte im Laufe der Zeit ein Gedanke zum Entschluss, hier klingt Tobler sehr entschieden: »Was ich nicht kontrollieren kann, dafür bin ich nicht direkt verantwortlich – darum muss ich mich nicht kümmern!«

Er konzentriert sich lieber auf das Mögliche, auf das Machbare. Neben seiner Arbeit als Dozent an der Berner Fachhochschule und an seiner Firma nimmt er an Projekten in der Rehabiliationsforschung teil. So untersucht die Eidgenössische Technische Hochschule von Lausanne (EPFL), wie ein Implantat im Rückenmark die Beine zum Gehen stimulieren kann. Für die Kombination dieser Technik mit seinem Go-Tryke hat Tobler bereits ein Patent angemeldet.

Ganz besonders freut er sich jetzt auf die Eröffnung seines eigenen Labors. Im kommenden Frühjahr ist es so weit. Am SCI mobility wird es um die Interaktion von Mensch und Maschine gehen. Viel will er nicht verraten. Doch eines ist jetzt bereits sicher: »Keiner wird dort nur Versuchskaninchen sein, alle werden aktiv am kreativen Prozess teilhaben.«

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