Wer steckt eigentlich hinter … den EUTB®-Stellen?

von Gabriele Wittmann

Die ergänzende unabhängige Teilhabe-Beratung (EUTB®) wird deutschlandweit an über 500 Standorten angeboten. Sie richtet sich an Menschen mit (drohender) Behinderung oder chronischer Erkrankung sowie an ihre Bezugspersonen.

Die Beratung ist kostenlos und umfasst eine breite Palette von Themen: Teilhabe an Arbeit, Bildung und kulturellem Leben, Beantragungen von Leistungen, Hilfsmittel, Pflege, oder auch generell Rat für den Um- gang mit Beeinträchtigungen. Das Konzept des »Peer Counseling« soll an allen Stellen angeboten werden, das heißt: Betroffene ermutigen andere Betroffene zu selbst bestimmten Entscheidungen.

Entstanden ist dieses Konzept durch das jahrzehntelange Engagement von Behindertenverbänden aus der Selbstbestimmt Leben-Bewegung, die das »Peer«-Prinzip aus den USA übernommen haben. Nach zahlreichen medienwirksamen Aktionen konnte das deutsche Bundesteilhabegesetz dahingehend reformiert werden, dass EUTB®-Beratungsangebote nun kontinuierlich gefördert werden. Sie müssen allerdings laufend Evaluationen bestehen. Seit 2018 fördert das Bundesministerium für Arbeit und Soziales die Einrichtung der EUTB®. Es handelt sich um ein ergänzendes Angebot, welches bestehende Beratungsstrukturen nicht ersetzen soll.

Foto: Margarethe Quaas

»Das Instrument muss man spielen«

Als Peer Counselor in einer EUTB®-Beratungsstelle hilft Markus Töpfer anderen dabei, sich selbst zu helfen

Montags und mittwochs sitzt Markus Töpfer vormittags an seinem Schreibtisch in der Gustav-Adolf-Straße und wartet auf die angemeldete Kundschaft. Hierhin, in das Berliner Zentrum für Selbstbestimmtes Leben e. V. (BZSL), kommen Menschen mit Behinderung, die Beratung suchen. Die Themen sind vielfältig: Es geht um Arbeit, Bildung, Soziales, Wohnen, Kultur, Mobilität. Kurz: Um alles, was mit einer Beeinträchtigung zu tun hat.

»Wir holen betroffene Menschen dort ab, wo sie stehen«, erzählt der 54-jährige Markus Töpfer. »Wir fragen erstmal: Sind Sie gut hergekommen? Und dann schauen wir, was ihr Anliegen ist «manchmal beginnt das Gespräch mit der Frage, ob die Klienten bereits einen Schwerbehindertenausweis haben. Wenn nicht, erhalten sie Hilfe bei der Beantragung. Manche haben einen Pflegegrad, verstehen aber nicht, was das für sie bedeutet. »Dann erkläre ich ihnen, was möglich ist. Wir schauen, ob der Pflegegrad an- gemessen ist. Und welche Möglichkeiten damit verbunden sind.«

An allen Standorten quer durch die Republik wird die Ergänzende Unabhängige Teilhabe- Beratung (EUTB®) seit drei Jahren kostenlos und unabhängig angeboten – unabhängig von Leistungsanbietern oder Kostenträgern, unbeeinflusst von Sozialämtern, Reha-Trägern oder Krankenkassen. Dadurch steht wirklich der jeweilige Mensch im Zentrum der Beratung, erklärt Markus Töpfer. Und nennt als Beispiel die vielen ungeeigneten Hilfsmittel: »Viele Rollstuhlfahrer haben ein ›Eisenschwein‹, das nicht faltbar ist und 25 Kilo wiegt.« In diesen Fällen erklärt er ihnen, welcher Rollstuhl praktischer für sie ist. »Es muss ein leichter und faltbarer sein. Da gibt es gute Modelle, die auch die Krankenkasse finanziert. Aber die sind kostenintensiv«, weiß Töpfer. Dann hilft er bei der Argumentation, um sie genehmigt zu bekommen.

Wirklichkeit und Antragstellung

Markus Töpfer hat schon vielen Menschen geholfen. Dafür hat er ein ganzes Instrumentarium an Möglichkeiten zur Hand. Solche Instrumente heißen zum Beispiel »Eingliederungshilfe«. Einem jungen Juristen etwa half er, sein Studium erfolgreich wieder aufzunehmen. Der Studierende hatte psychische Probleme, musste drei Jahre lang aussteigen. Danach hatte er teilweise den Anschluss verloren. Über das Instrument der Eingliederungshilfe besorgte Töpfer ihm Teilhabe an Bildung: Der junge Jurist suchte sich einen Mentor, der ihm zwei Jahre lang Nachhilfe gab. Bezahlt wurde das von der Kommune über das »Persönliche Budget«.

Ein anderes Instrument ist die »Gleichstellung«, die Wettbewerbsnachteile am Arbeitsplatz aus- gleichen soll. Ein Busfahrer mit einer Schwerbehinderung von nur 30 Grad hatte einen Antrag auf Gleichstellung gestellt. Die Arbeitsagentur lehnte ab. Töpfer riet ihm: »Schreiben Sie erstmal nur: Hiermit lege ich fristgemäß Widerspruch gegen den oben genannten Bescheid ein, Begründung folgt.« Daraufhin genehmigte die Agentur ihm die Gleichstellung. »Daran sehen Sie«, sagt Töpfer in besinnlichem Ton, und setzt bedächtig nach: »Ich drücke es mal vorsichtig so aus: Leider besteht in den Ämtern noch eine Disharmonie zwischen Wirklichkeit und Antragstellung.«

Foto: Margarethe Quaas

Wieder laufen lernen

Wie kommt so einer wie Markus Töpfer zu dieser Art von Arbeit? Als diplomierter Ingenieur leitete er früher Projekte auf dem Gebiet der Stadtsanierung. 2009 erlitt er eine durch Pneumokokken verursachte Blutvergiftung, 60 Tage lag er im künstlichen Koma. Als Folge wurden beide Unterschenkel amputiert. Heute trägt er zwei Bein-Prothesen, an der linken Hand sitzt nur noch ein Stumpf. »Das ist meine at-Taste«, scherzt er. »Damit kann ich das »@« Zeichen für E-Mails drücken.«

Während seiner Reha lernte Markus Töpfer das freihändige Laufen mit Prothesen. Er überlegte, was er tun könne: Etwas mit Beratung sollte es sein, denn sein Kopf war noch klar. Im Internet stieß er auf das Angebot der Bifos. Er absolvierte die ISL-zertifizierte Weiterbildung, war für die BZSL zunächst in einem Flüchtlingsprojekt tätig. Als sie 2018 dann den Zuschlag für eine EUTB®-Beratung bekamen, erhielt er eine Anstellung als Peer Counselor.

Zukunftsplanung nach Rogers

Der Anspruch aller ISL-zertifizierten Teilhabeberater ist es, Menschen so oft wie möglich auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen. Doch manchmal kommen Klienten, die einen schweren Schicksalsschlag erlebt haben. Dann geht es erstmal darum, sie zu »erden«, wie Töpfer es nennt. »Meistens geht es ja um den Menschen an sich«, sagt er. Und erklärt, dass Menschen sich oft fühlen wie »ein rohes Ei, das sich wundgelegen hat«. Dann muss er jemanden erstmal da abholen, wo er steht. Als nächstes wird priorisiert: Welches Anliegen soll vorrangig gelöst werden, welches nachrangig? EUTB®-Berater haben verschiedene Techniken gelernt und können klientenzentriert oder auch systemisch arbeiten.

Markus Töpfer erinnert sich an eine junge Frau, die einen Unfall hatte. Ein Unfallgegner war nicht zu finden. Sie fand sich plötzlich im Rollstuhl wieder und wusste nicht mehr weiter im Leben. »Die hat das Schicksal regelrecht aufgefressen«, erinnert sich der Berater. Dann greift er auf das Instrument »Empowerment« zurück. Zum Beispiel auf die persönliche Zukunftsplanung nach Carl Rogers.

Bei dieser Technik kommen Freunde und Unterstützer aus dem Umfeld der Person und helfen dabei, ihre Fähigkeiten herauszuarbeiten. Die Frau machte eine persönliche Zukunftsplanung, heute arbeitet sie erfolgreich im Büro einer Krankenkasse.

Hund mit Wohnung

»Ich brauche einen Hund und eine Wohnung« platzte eines Tages ein junger Mann in die Beratung. Er litt unter starker Epilepsie, hatte bis zu neun Anfälle am Tag. Er lebte noch bei seiner Mutter, die ihn vor Anfällen warnte, sodass er rechtzeitig Medikamente einnehmen konnte. Aber der junge Mann wollte endlich ausziehen und auf eigenen Füßen stehen.

Markus Töpfer spielte das Instrument der Netz- werke. »Man muss spontan sein im Kopf«, sagt Töpfer.
»Ich habe auch nicht das ganze Sozialgesetzbuch im Kopf. Aber ich weiß, wo das steht. Und ich habe gute Ansprechpartner. Ich mache mich schlau und probiere Dinge aus.«

Der Berater erkundigte sich. Er fand drei Vereine in Süddeutschland, die Hunde ausbilden, die epileptische Anfälle vorher riechen können. Inzwischen hat der Klient einen Hund und konnte dadurch eine Arbeit annehmen. Töpfer riet ihm, den Behindertenbeauftragten des Bezirks aufzusuchen. Der wiederum kontaktierte eine Genossenschaft, die ein kleines Kontingent für Notfälle hat. Bei ihr hat er inzwischen eine eigene Wohnung gefunden.

Fotos: Margarethe Quaas

Auf Augenhöhe

Die Peer to Peer-Begegnung findet Markus Töpfer enorm wichtig. »Es schafft eine ganz andere Ebene«, sagt er. »Ich kann den Klienten sagen: Ich sitze abends auch im Rollstuhl, ich weiß, wie das ist.« Töpfer ist Experte in eigener Sache. Er hat einen Grad der Behinderung von hundert, dazu einen Pflegegrad. Er braucht vier Stunden Physiotherapie wöchentlich, damit die Muskulatur unterhalb seiner Rippen für die Prothesen trainiert bleibt. Dazu Ergotherapie, damit das Gewebe an den Händen nicht verklebt. Deswegen genügen ihm die Stunden, die er für seinen Minijob unterwegs ist. Auch, wenn er manchmal abends noch Klienten anruft, um sie erreichen zu können.

Viele Anfragen kommen zum Thema Mobilität. Was viele nicht wissen: Ein behindertengerechter Pkw kann auch finanziert werden, wenn der Klient eine ehrenamtliche soziale Tätigkeit ausübt. Töpfer gelang es in folgendem Fall: Eine Frau arbeitete ehrenamtlich in der Sterbehilfe und wollte ein Auto, um die Kunden besser erreichen zu können. »Ich fand das einen sinnvollen Job«, erinnert sich Töpfer. »Durch meine Anstöße hat die Klientin es geschafft, dass ihr das genehmigt wurde.« Der Berater fasst es so zusammen: »Ich sag immer: Das Instrument muss man spielen. Und dann funktioniert das.«

Wir können Hinweise geben

Manches fordert seine gesamte Kraft. Eine verheiratete Frau kam mit Zwillingen, eines der Babys hatte einen Gendefekt. Es musste über eine Sonde ernährt werden und schrie den ganzen Tag. Die jungen Eltern waren »wie erstarrt«, erinnert sich Markus Töpfer. Wie konnte er helfen? Zum einen kontaktierte er einen Kinderpflegedienst, der inzwischen mehrmals am Tag kommt. Das konnte er über eine öffentlich- rechtliche Stiftung organisieren. Beim Jugendamt konnte er erreichen, dass sie eine Familienhelferin begleitet. Und für die beiden Eltern hat er organisiert, dass sie sofort in psychologische Betreuung kommen, damit sie »dieses Leid ertragen und wieder in die Zukunft schauen können.« Töpfer sagt: »Wir heilen nicht. Aber wir können Empfehlungen geben, damit solche Menschen weiterkommen.«

Für die EUTB®-Beratungen stehen der Berliner BZSL drei halbe Stellen zur Verfügung, dazu drei Mini-Jobs. Einen davon hat Markus Töpfer.

Was gibt ihm die Energie, für einen Lohn von 450 Euro im Monat so viel zu bewegen? »Ich habe Erfolg«, sagt Markus Töpfer. »Ich kenne mich relativ gut aus. Und ich schaffe es fast immer, Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu rufen.« Dafür ist er dankbar. »Das hat etwas mit Anerkennung zu tun. Und mit Selbstreflektion.«
Was sollten Ratsuchende wissen, wenn sie eine EUTB®-Stelle aufsuchen? »Juristisch erstmal nichts«, sagt Töpfer. »Aber sie sollten konkrete Anliegen haben.« Gemeinsam lotet man dann aus, was möglich ist. Und was die Ratsuchenden jeweils dafür tun müssen. Denn tun müssen sie es allein: »Wir beraten auf Augenhöhe. Das heißt: Einen Antrag stellen müssen sie dann schon selbst.«

Foto: BVG/ Oliver Lang

Max*

Max kam zur EUTB®-Beratung, weil er seinen Arbeitsplatz plötzlich nicht mehr erreichen konnte. Er nutzt S- und U-Bahn, auf dem letzten Kilometer fährt jedoch nur noch ein Bus. Durch die Corona-Pandemie war in Berliner Bussen der Einstieg vorne nicht mehr erlaubt. Doch nur vorne gibt es einen Stützgriff, den Max aufgrund seiner Spastik braucht, um sich daran hochzuziehen.

»Ich klemme mir an den nach außen aufgehen- den hinteren Türen die Arme ein, wenn ich versuche,
mich daran festzuhalten«, erzählt Max. Durch die Tagespresse hatte er erfahren, dass für die Busfahrer bald Schutzscheiben installiert werden sollen. Trotz mehrfacher Nachfrage bei der BVG bekam er bisher keine Informationen. Klagen will er nicht. »Ich möchte eine verlässliche Auskunft, ab wann die vorderen Türen wieder nutzbar sind.«

Um das zu erreichen, vermittelte das BZSL ihn an die Anti-Diskriminierungsstelle, die mit ihm gemeinsam ein Schreiben an die BVG schickte. Durch die EUTB®-Beratung hat er hilfreiche Informationen zur Leistung der Eingliederungshilfe erhalten. Beispielsweise den Tipp, die sogenannte Mobilitätshilfe zu beantragen, um die Kosten erstattet zu bekommen. Denn aktuell fährt Max den letzten Kilometer zur Arbeit not gedrungen mit dem Taxi.

Wie wird man Peer Berater?

Wir fragten Barbara Vieweg, Projektkoordinatorin bei bifos e. V.: Wie wird man ISL-zertifizierter EUTB-Berater?

Barbara Vieweg: Man nimmt an der Peer Counseling Weiterbildung des Bildungs- und Forschungsinstituts zum selbstbestimmten Leben Behinderter e. V. (bifos) teil.

Wie läuft so eine Weiterbildung ab?

Es gibt sechs Blöcke, die in der weitgehend barrierefreien Tagungsstätte im thüringischen Uder durchgeführt werden. Zur Zeit finden die Blöcke online statt. Zu den behandelten Themen gehören Punkte wie die Geschichte und Idee des Peer Counseling, die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung, Kommunikation und Gesprächsführung sowie Methoden der Teilhabeplanung.

Zu den vermittelten Inhalten gehören auch Ansätze aus der humanistischen Psychologie. Warum gerade
diese?

Das Peer Counseling ist in den vierziger Jahren in den USA entstanden, beispielsweise bei den
Anonymen Alkoholikern oder bei Studierenden. Sie nutzten die personenzentrierte Gesprächsführung
nach Carl Rogers. Diese eignet sich besonders gut für eine Beratungshaltung, die die Problemlösungskompetenz der Ratsuchenden in den Mittelpunkt stellt. Allerdings können auch andere
Methoden angewendet werden, beispiels- weise die systemische Beratung.

Wie lange dauert die Weiterbildung?

Die sechs Blöcke bestehen aus jeweils vier Tagen. Insgesamt sind es 144 Stunden, dazu kommen noch
zehn Stunden Einzelberatung sowie selbst- organisierte Treffen der Teilnehmenden.

Was kostet es?

Die Weiterbildung kostet 2 000 Euro Teilnahmegebühr, darin enthalten sind auch Unterkunft und Verpflegung am Tagungsort. Dieser vergleichsweise geringe Beitrag ist möglich, weil wir eine Förderung durch die Aktion Mensch erhalten. Dazu kommen 500 Euro für die zehn Stunden Einzelberatung und die Fahrkosten, die selbst getragen werden müssen. Zuschüsse können beim Integrationsamt für die behinderungsbedingten Mehrkosten und teilweise auch für die Teilnahmegebühr beantragt werden. Für Teilnehmende ohne Arbeitgeber kann auch eine Förderung durch die Eingliederungshilfe oder die Rentenversicherung in Frage kommen. Bifos gibt dazu gern Auskunft.

Für wen eignet sich die Weiterbildung?

Menschen mit Behinderungen, die Berater werden wollen, können sich bewerben. Wichtig ist, dass
bereits während der Weiterbildung die zeitliche Möglichkeit besteht, selbst Beratungsgespräche zu
führen. Auch Menschen, die ehrenamtlich beraten, können an der Weiterbildung teilnehmen.

Eine genaue Beschreibung der einzelnen Themen finden Sie unter
www.peer-counseling.org/index.php/peer-counseling-weiterbildung/aktuelle-weiterbildung

EUTB®-Stellen in Ihrer Nähe finden Sie unter: www.teilhabeberatung.de

*Namen und teilweise auch Geschlechter in dieser Geschichte haben wir geändert, da die EUTB®-Stellen Datenschutz garantieren.

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